Das Adat-Recht der Minangkabau: Frühe Forschung zu einem Natur-Recht

Auf Anregung von Dagmar Lilly Margotsdotter hin, die sich mit der frühen Forschung zum Adat-Recht in Matriarchaten befasst, entstand dieser Beitrag auf Grundlage des englischsprachigen Werkes „Van Vollenhoven on Indonesian Adat Law“ von Cornelis Van Vollenhoven, 1918; herausgegeben von J. F. Holleman und H. W. J. Sonius, 1981.

 

Die Erforschung des Adat-Rechts der Minangkabau

Das matriarchale Adat-Recht kann nur insofern als ein Natur-Recht bezeichnet werden, da es sich nicht von den vorherrschenden Gebräuchen und Glaubensvorstellungen der Minangkabau trennen läßt, wie H. W. J. Sonius in der Einführung zum Buch schreibt.

 

Er erklärt, Cornelis van Vollenhovens Herangehensweise an die Erforschung des Adat-Rechts sei zunächst ethnographischer Natur und eher ethnologisch und historisch als juristisch ausgerichtet gewesen. Aus diesem breiten Spektrum sozialer Phänomene leitete Van Vollenhoven das Adat-Rechtssystem ab, ohne dessen ethnologischen Zusammenhang zu vernachlässigen. Er entdeckte die gemeinsamen Grundsätze eines indonesischen Rechtsraums, den beständigen Rahmen der Gesetze und rechtlichen Institutionen in ihrer ganzen Vielfalt in der damaligen Zeit und Region.

 

Das Recht der malayo-polynesischen Indigenen war im Laufe der Zeit hinduistischen, islamischen, chinesischen sowie portugiesischen, englischen und holländischen Einflüssen unterworfen. Da es kein indonesisches Wort dafür gibt, verwandte Van Vollenhoven sehr viel Sorgfalt auf die Auswahl eines möglichst passenden Begriffs. Mit der Bezeichnung „Sittenrecht“ und anderen Definitionen war er nicht einverstanden. Schließlich entschied er sich für eine Kombination mit dem arabischen Wort „Adat“ für „Tradition“, und hielt „Adatrecht“ für den passenden Ausdruck für „Adat mit Rechtsfolgen“.

 

Van Vollenhoven wich stark von der in Europa gebräuchlichen Rechts-Methodik ab. Er glaubte, dass die Anwendung römischer Rechtsvorstellungen nur zu einem Missverständnis unterschiedlicher Rechtssysteme führen kann. Wie keinem anderen zuvor gelang es ihm nicht nur, sich in die Vorstellungen und Eigenarten des indonesischen Rechts einzufühlen, sondern er übte auch scharfe Kritik an den häufigen Fehldeutungen.

 

In seiner Arbeit erwähnt er 450 Forscher, die über drei Jahrhunderte lang zum Wissen über dieses Natur-Recht beigetragen haben, doch darunter sind keine indonesischen Wissenschaftler zu finden. Erst nach 1918 hatte er die Beschreibung des indigenen Adat-Rechts fertig gestellt (Adatrecht, Band 1). 

 

Der Rechtsraum der Minangkabau

In Kapitel 6 vom Dezember 1911 befasst sich Cornelis van Vollenhoven mit dem Rechtsraum der Minangkabau, der damals das Hochland von Padang und das Küstengebiet des Padang-Tieflands (die Westküste von Sumatra) bis in Gebiete außerhalb des Kernlands des Volkes mit einer Bevölkerung von schätzungsweise 1.300 000 Menschen umfasste.   

 

Für den Forscher war die „umfassende Natur und logische Kohärenz des Adat-Rechts der Minangkabau immer noch erkennbar.“ In den damals noch vernachlässigten Gegenden – er nennt sie Kampar-, Kwantan- und Batang Hari-Gebiete - schien es am wenigsten beeinflusst worden zu sein. Dort und in einigen anderen offiziell verzeichneten, nicht-autonomen Regionen war die indigene Verwaltung des Rechts erhalten geblieben.  

Das Sippen-Adat-Recht

Da die Rechtsgemeinschaften der Minangkabau auf dem Prinzip der Abstammung basieren, betrachtete Van Vollenhoven zunächst das Sippen-Recht, das er als matrilinear erkannte. Der Autor verwendete weiterhin den Begriff „Familie“, bezog sich jedoch auf die mütterliche Linie. An erster Stelle steht seiner Beobachtung nach die Kernfamilie und danach kommt der Familienverband in einem gemeinsamen Haushalt.

 

Die Familie ist die Einheit, auf der die Gesellschaftsstruktur der Minangkabau gründet. Es gibt jedoch keine eigenständige Bezeichnung für sie. Familien hätten ihm zufolge damals auch meist keinen Familiennamen verwendet. Die Mitglieder einer Sippe werden „Früchte eines Mutterleibs“ genannt.

 

Obwohl eine Familie oftmals ein Haus bewohnt, bedeutet dies nicht, dass jedes Haus eine vollständige Sippe beherbergt. Die Sippe selbst bezeichnet sich laut Van Vollenhoven als „alle Menschen, deren Mütter Schwestern oder Cousinen sind“ oder „alle Menschen, deren Großmütter Schwestern oder Cousinen sind“. Selbst wenn eine Familie neuen Wohnraum benötigt, wird deren Ursprungshaus (das „große“ Haus) nicht aufgegeben.

 

Die Familie kann in Gruppierungen aufgeteilt sein. Im engeren Sinne bedeutet ein Haushalt eine Mutter mit ihren Kindern. Im weiteren Sinne bedeutet Haushalt „die Mitglieder eines Topfs“ oder „einer Küche“ oder „eines Hauses“, letzteres, wenn die Familie über mehr als einen Wohnsitz verteilt ist.

 

Die Abstammungslinie in Matriarchaten ist (bis heute) matrilinear. Die Kinder gehören zur Sippe der Mutter, der Erzeuger/Vater ihrer Kinder zählt nicht dazu. Alle Abkömmlinge einer Mutter werden als Blutsgeschwister betrachtet. Als blutsverwandt gelten nur diejenigen, die von einer gemeinsamen Ahnin abstammen. Adoption war laut der frühen Forschungsarbeit von Van Vollenhoven in Matriarchaten nicht bekannt.

 

Die kleinste, unabhängige und zentrale Rechtsgemeinschaft in der Sippe ist die Kern-Familie, die in einem gemeinsamen Wohnsitz lebt und eigenes Land besitzt. Familienzweige und auch die Gesamt-Sippe sind keine Rechtsgemeinschaften. Nach der Kern-Familie ist die nächste Rechtsgemeinschaft der Verbund von Sippen in einem Dorf, die nicht blutsverwandt sind, genannt „suku“.

 

Stellung des männlichen Ältesten

Der Älteste in der Sippe oder die Brüder seiner Mutter und der vorangehenden Generation wird/werden als „mamak“ bezeichnet. Es scheint keinen besonderen „mamak“ der Haushalte oder Familienzweige zu geben. Er ist der älteste Mann der ältesten noch lebenden Generation. Er verwaltet den gesamten Landbesitz. Land wird nur geteilt, wenn Zweige der Sippe hoffnungslos zerstritten sind. In wichtigen Angelegenheiten entscheidet er nur nach Beratung mit den erwachsenen weiblichen Familienmitgliedern und den im Dorf wohnenden männlichen Familienangehörigen. Wenn er für die Aufgabe ungeeignet ist, können die Familienangehörigen gemeinsam entscheiden, ihm diese zu entziehen.

 

Mutter-Recht

Eine Eheschließung im eigenen Gebiet oder Dorf (suku; im Sinne des Sippen-Verbunds) ist erlaubt, sofern in eine andere Sippe eingeheiratet wird. Die Ehe steht unter dem Mutter-Recht. Der Mann zieht in den Haushalt seiner Ehefrau, obwohl er nicht in ihre Familie integriert wird. Die Kinder gehören zur Mutter. Obwohl der Ehemann das Haus seiner Frau als sein Zuhause betrachtet, besitzt er nach dem Adat-Recht in diesem Haus keine väterliche Autorität.

 

Der Landbesitz, der in die Familie der Eheleute eingebracht wird, stammt überwiegend aus der Familie der Ehefrau. Auch der Ehemann erhält Hochzeitsgeschenke von der Familie seiner Frau.

 

Sowohl Junggesellen als auch verheiratete Männer schlafen niemals in ihrem Familienhaus („dem Haus meiner Schwestern“). Erstere übernachten in einem „Dorf-Schlafsaal“, einem Gasthaus oder bei Freunden, letztere im Haus ihrer Ehefrau (das sie „mein Haus“ nennen).

 

Scheidungen auf Antrag eines Ehepartners nach islamischer Tradition sind häufig. Nach der Billigung durch die Familie der Ehefrau soll es auch Scheidungen auf Antrag beider Ehepartner geben.  

Erb-Recht

Das Erb-Recht mit der Bezeichnung „adat pusako“ bedeutet, dass der selbst erworbene Besitz nach Abzug der Schulden nach dem Tod auf die mütterliche Familie oder die nächste Generation übergeht. Dies gilt nicht nur für Land und Geld, sondern für den gesamten Nachlass. 

     

Die zweite Regelung heißt „adat kamankan“ und scheint nach Beobachtung des Forschers Van Vollenhoven darin zu bestehen, dass die oder der nächste Angehörige der oder des Verstorbenen vorrangig in den Genuss dieser Erbschaft kommt, obwohl die ganze matrilineare Familie vom Erbe begünstigt ist. Diese Vorrangstellung wird vom „mamak“ kontrolliert. Sie gilt in erster Linie für die Töchter und Söhne in Hinsicht auf das Vermögen ihrer Mutter. Danach kommen deren Geschwister, die von derselben Mutter abstammen, danach deren Kinder und an letzter Stelle ihre Mutter.

 

Ein Recht auf Vererbung von einem Menschen auf einen anderen ist im Adat-Recht der Minangkabau nicht bekannt – weder hinsichtlich materieller Güter noch in Bezug auf Ämter und Titel, die stets im Familienbesitz bleiben.

 

Land-Recht

Das wichtigste Adat-Recht ist das Recht auf die Nutzung von Land und Wasser. In den meisten Gebieten gilt es für die Ortsansässigen (nagari). In vielen Regionen gilt dieses Recht für die Stamm-Familien im Dorf. Es geht nur auf das Dorf über, wenn die Familie ausstirbt. Die Ländereien im Familienbesitz dürfen keinen Fremden überlassen werden, brach liegen oder geteilt werden, außer die Familie spaltet sich. Der Boden darf gewinnbringend genutzt werden. Wer noch jungfräulichen Boden zur Nutzung haben möchte, wendet sich an den „mamak“.

 

Die zwanzig Gebote

Es gibt zwanzig Kategorien des Unrechts, die sogenannten „undang undang nan duo puluh“ oder „zwanzig Gebote“. Sie lassen einen breiten Ermessensspielraum und sind nicht mit einem Gesetzbuch vergleichbar. Die Kategorien 1 bis 8 umfassen Eigentumsdelikte: Diebstahl, Raub, Raub mit Gewalt, verbaler Betrug, materieller Betrug, Brandstiftung, leichte Beschädigung und starke Beschädigung. Die Kategorien 9 bis 20 behandeln Unrecht gegen den Menschen: Körperverletzung und Totschlag, Angriff, Giftmord, Verstöße gegen die guten Sitten, leichte Entführung, schwere Entführung, Freiheitsberaubung, Vergehen gegen die Staatsgewalt, Verursachung eines Aufruhrs, Herausforderung eines anderen zum Kampf, Kampf, Anstiftung und Beleidigung. 

 

Im Bereich der indigenen Rechtsprechung wird das Adat-Rechts vermutlich immer noch angewandt, während es in der staatlichen Rechtsprechung durch das Indigene Strafgesetz Sumatras ersetzt wurde.

 

Rechtsmittel

In der Vergangenheit war in der Sippe die Selbsthilfe üblich. Der Mensch haftete individuell für seine Schulden mit seinem persönlichen Besitz, jedoch nicht mit seiner Teilhabe am Familienbesitz. Die Familie bezahlte nur, wenn die Schuld durch das repräsentative Familienoberhaupt verursacht wurde, jedoch nicht für Steuerschulden. Nach dem Tod beschränkte sich die Haftung auf das Vermögen des Verstorbenen. Das Dorf und die Sippengemeinschaft hafteten niemals für die Schulden ihrer Mitglieder.

 

Bestrafungen für Verstöße gegen das Adat-Recht sind die Verwarnung oder im Wiederholungsfall die Ächtung. Durch den Ausschluss aus der Sippe bleibt die Familie eines Mannes, der gegen die Gebote verstoßen hat, fortan unbehelligt von seinen Verfehlungen. Wer ständig das Adat-Recht verletzt, kann mit der endgültigen Verbannung aus dem Dorf bestraft werden (buang bidak), was als eine der schwersten Strafen betrachtet wird. Darüber hinaus besteht die Sanktionsmöglichkeit, den Familienältesten auf Antrag der Sippe in einer Versammlung im Gemeindesaal abzusetzen. Jedes Familienmitglied (besonders eine Frau) und jeder Angehörige derselben Sippe kann Wiedergutmachung für unberechtigte Handlungen eines Familienältesten verlangen. 

Fazit

Die Erkenntnisse aus der frühen Forschung zum Adat-Recht zeigten bereits, dass bei den Minangkabau die Stärkung der Mutter, der Zusammenhalt in der Sippe und Gemeinschaft und der Erhalt des gemeinsamen Besitzes im Vordergrund stehen. Im zeitgenössischen Dokumentarfilm „Mutterland“ würdigen die Matriarchatsforscherinnen Uschi Madeisky und Dagmar Margotsdotter die Bedeutung der Mütter und der Mutterlinie bei den Minangkabau  im Jetzt mit ihrem erweiterten Blick und machen das gute Leben in diesem Matriarchat nun auch sicht- und nachfühlbar.      

 

UF

Quellennachweis: Cornelis Van Vollenhoven, J.F. Holleman, H.W.J. Sonius: Van Vollenhoven on Indonesian Adat Law. Springer Science+Business Media Dordrecht, 1981 

Fotos: mit freundlicher Genehmigung von Uschi Madeisky

Der Dokumentarfilm "Mutterland" ist im Christel Göttert Verlag erhältlich, christel-goettert-verlag.de