Wenn Essen (k)ein Thema ist

Magersucht kann in jeder Familie auftauchen. Etwa ein Prozent der Bevölkerung ist von dieser Krankheit betroffen. In der Altersgruppe der 14- bis 18-jährigen Mädchen tritt sie besonders häufig auf, zunehmend aber auch bei Jungen. Die Altersgrenze verschiebt sich nach unten. Die jüngste Patientin in einer Klinik für Essstörungen ist im Grundschulalter. Doch früh erkannt, bestehen heute sehr gute Heilungschancen. Besonders wichtig ist dabei, auch die Mütter und andere Angehörige mit einzubeziehen und zu unterstützen. Dieses Angebot gibt es noch zu wenig. 

 

Ein magersüchtiges Mädchen im Teenageralter zu Hause zu haben, stellt eine enorme Herausforderung für eine Mutter und ihre Familie dar. Anfangs ist die Krankheit mit zahlreichen Täuschungen verbunden, die eine angemessene Reaktion verzögern und erschweren kann. Die jungen Mädchen interessieren sich plötzlich sehr für gesunde Ernährung wie zum Beispiel Bio-Kost. Viele wollen fortan nur noch vegetarisch oder vegan essen. Rezepte und Kochbücher werden gesammelt. Sie kochen mit enormem Zeitaufwand für andere und nehmen selbst immer weniger zu sich. Je weiter die Gewichtsabnahme fortschreitet, desto mehr steigert sich bei vielen der Bewegungsdrang - wie bei der rastlosen Nahrungssuche, die sich auch bei hungrigen Tieren einstellt. Ein Großteil der Mädchen treibt wie besessen Sport, lernt im Stehen, selbst wenn sie bereits so geschwächt sind, dass sie unter Dauererschöpfung leiden. Nach außen hin wirken sie jedoch scheinbar fit. Durch das fehlende wärmende Fettgewebe frieren die Mädchen ständig und ziehen mehrere Pullis und Jacken übereinander, was den extrem dünnen Körper verhüllt (deshalb bekommen manche auch Körperbehaarung zum Schutz vor Kälte, wogegen die Kopf-Haare zunehmend ausfallen). Mit zunehmend depressiver Stimmung wird auch die Kleidung immer dunkler. Wenn die Monatsregel ausbleibt, täuschen die Mädchen darüber hinweg, indem sie Binden mit in die Schule nehmen und angeblich verbrauchen. In der Akutphase sind sie kaum mehr ansprechbar, schwanken zwischen völliger Verzweiflung und extremer Abwehr, was zu einer schrecklichen Schach-Matt-Situation bei den Müttern führt.

 

Im Gesprächskreis erzählen die Mütter über diese Krankheitszeichen – alle tief bewegt von der Essstörung ihrer Kinder. Ihre magersüchtigen Mädchen sind zwischen 13 und 21 Jahre alt. Die Mütter und Väter kommen teilweise von weit her, aus der Stadt und vom Land. Sie sind einfühlsam, bewusst und engagiert, erzählen fassungslos und unter Tränen von ihren intelligenten, sensiblen und kreativen Kindern, die früher einmal fröhlich waren und ein inniges Verhältnis zu ihnen hatten, und die sich in galoppierendem Tempo in ein lebensbedrohliches Untergewicht gehungert haben. Sie haben ganz normale Familiengeschichten – wenn man berücksichtigt, dass wir in einer patriarchalischen Leistungsgesellschaft leben, die allen nicht gut tut. Die Mädchen haben keine außergewöhnlichen traumatischen Erfahrungen erlitten. „Es kann jeden treffen“, sagt eine Mutter. Das erleichtert die betroffenen Angehörigen, die sich am Anfang doch „mit schuldig“ gefühlt haben. 

 

Wie bei einer Virusinfektion, die eine bekommt und die andere nicht, gibt es zwar auslösende Faktoren, aber, was schwerer wiegt, ist die heimtückische Natur der Anorexie, die sich ab einem bestimmten kritischen Untergewicht aufgrund ihrer körperlichen Folgen verselbstständigt. Längere Hungerphasen mit einem Gewichtsverlust von mindestens 15 Prozent des ursprünglichen Gewichts in der Pubertät oder Adoleszenz tragen zur Entstehung der Anorexia nervosa bei. Ein Anhaltspunkt ist dabei der BMI (Body Mass Index; Verhältnis von Körpergröße und Gewicht; Normalgewicht beginnt bei einem BMI von 18,5). Die Hungersnot lässt das Gehirn schrumpfen und verändert es, was eine Störung der Wahrnehmung und des Sättigungszentrums zur Folge hat. Daher geht es bei der Behandlung zunächst darum, die Mädchen wieder zum Essen zu bringen oder mit intensivmedizinischen Maßnahmen wie einer Magensonde vor dem Verhungern zu bewahren, bevor psychotherapeutische Unterstützung angeboten werden kann. Um die „Magersucht“ ranken sich jedoch noch viele Klischees mit Schuldzuweisungen, die Familien unnötig belasten. Weder die Mütter sind „schuld“, noch sind die Kinder „selbst schuld“, denn sie können ohne Hilfe nicht anders. Das Bild von der „Model-Krankheit“ und dem „Schlankheitswahn“ greift zu kurz. Magersucht ist keine Sucht, sondern geht mit suchtähnlichen Zwangsverhaltensweisen einher. Auch der Wunsch nach Schlankheit ist nur vordergründig, im Hintergrund stehen Gefühle der Wertlosigkeit.

Hilfreich ist die Beschäftigung mit der Patriarchatskritik. Die hungernden Mädchen leben in einer Welt, die Weibliches nach wie vor entwertet. „Die heutige Frau ist ein runder Stab, der verzweifelt versucht, in ein viereckiges Loch zu passen, damit sie überleben und sich wohlfühlen kann. Und wie stellt sie das an? Indem sie versucht, ihrem Körper eine kantige, maskuline Form ohne ein Gramm Fett zu pressen. Indem sie sich ihres Menstruationsblutes (durch das sie sich einst mit der Erde verbunden fühlte) so schämt, dass sie tut, als existiere es nicht. Indem sie ihre stärksten Emotionen verleugnet und ihre intuitive Stimme zum Schweigen bringt“, schreibt die Psychotherapeutin Anita Johnston. In einer von männlichen Idealen bestimmten Kultur streben auch die Frauen nach einer männlichen Figur. Dafür trainieren sie hart, bis alles an ihnen flach ist, auch die Brust. Da diese jedoch ein Attraktivitätsmerkmal ist, wird sie künstlich auf den mageren Körper aufgesetzt - mit Push up-BHs oder - schlimmer - durch sogenannte Schönheits-Chirurgie.
 
Für die Mutter ist es unerträglich, wenn sie ihre Tochter nicht mehr gesund ernähren kann und sie in einer so elenden Verfassung sieht. Seit der Schwangerschaft galt ihre tägliche Fürsorge ihrem Kind, das sie mit guter Nahrung versorgte. Jetzt ist aus ihrer einst unbeschwerten Esserin eine von Zwängen geplagte, ausgemergelte Tyrannin geworden, die sie zur Verzweiflung bringt. Sie muß die verletzenden Wutausbrüche ihrer Tochter verkraften und ihr Kind wieder auffangen, wenn es in das Gefühlstief fällt. Darüber hinaus kämpft die Mutter gegen kränkende und empathielose Ratschläge aus dem Bekanntenkreis oder der Verwandtschaft, wenn die Magersucht ihrer Tochter nicht mehr zu übersehen ist: „Bring sie doch dazu, endlich wieder mehr zu essen.“ Als täten Mütter nicht händeringend jeden Tag alles, um ihre Töchter zu erreichen! Sie legen jedes Wort, das mit Essen zu tun hat, auf die Goldwaage. Sie kaufen exakt die Lebensmittel, die von der Tochter verlangt werden, und die sie danach trotzdem ablehnt. Sie lassen die Tochter selbst kochen und essen mit ihr vegetarisch. Sie wägen jeden Kommentar ab, wenn sie sehen, wie die Tochter drei winzige Löffel Müsli mit Mageryoghurt pickt. Sie versuchen, dem übertriebenen Sport oder der Rastlosigkeit des Kindes eine Grenze zu setzen, und stoßen doch nur an ihre eigene. Sie verlieren selbst den Appetit, die Lust am Einkaufen und am Kochen und die Freude an den gemeinsamen Mahlzeiten. Ein Vater erzählt, dass seine Frau und er nicht mehr lachen können. Ganze Familien drohen zu zerbrechen.

Mütter essgestörter Kinder sind an ihrer Belastungsgrenze oder längst darüber hinaus, denn sie erleben eine Situation, die vollkommen ihrer mütterlichen Natur widerspricht. In „Das weibliche Gehirn" schreibt die Neurobiologin Louann Brizendine: „Meine Schwangerschaft ist lange vorüber, aber immer noch lebe und atme ich für zwei; mit Körper und Seele hänge ich an meinem Kind - es ist eine so starke Bindung, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Seit mein Kind geboren wurde, bin ich zu einer anderen Frau geworden, und als Ärztin weiß ich auch, warum. Durch die Mutterschaft verändert sich eine Frau, weil sich buchstäblich ihr Gehirn wandelt - mit seiner Struktur und mit seinen Funktionen; Das Produkt dieser Veränderung ist ein motiviertes, höchst aufmerksames, aggressiv beschützendes Gehirn, das die junge Mutter zwingt, anders als früher zu reagieren und im Leben neue Prioritäten zu setzen. Sie baut zu dem neuen Menschen eine Beziehung auf, wie sie noch niemals eine zu jemand anderem hatte. Es geht um Leben und Tod.“ Kein Wunder, dass Mütter von essgestörten Kindern so entsetzlich leiden. Ohnmächtig wie nie zuvor in ihrem Leben fühlen sich alle, denn die Macht über Leben und Tod liegt plötzlich in der Hand eines unmündigen oder auch bereits erwachsenen Kindes, das sich selbst zerstört, ohne es wahrhaben zu wollen. Die überlebenswichtige Entscheidung einer Mutter für ihr Kind und ihr erster Schritt aus der Ohnmacht bestehen darin, Hilfe zu holen und das Kind zum Arzt zu bringen. Abhängig vom Zustand des erkrankten Mädchens ist eine ambulante Behandlung mit Ernährungstherapie und begleitender Psychotherapie möglich. Die regelmäßige ärztliche Kontrolle ist dabei unerlässlich.

 

Dabei ist es wichtig, die Mutter in alle therapeutischen Schritte einzubeziehen und sie nicht allein zu lassen mit dem komplizierten Alltag, der als Folge der Krankheit entsteht. Wichtig ist daher besonders auch, dass die Mutter von einem mitfühlenden Umfeld unterstützt wird, so dass sie sich erholen kann. Eine alte chinesische Weisheit sagt: „Wenn das Kind krank ist, heile die Mutter.“ Damit ihre nährenden, lebenserhaltenden mütterlichen Kräfte wirken können, die ein Kind immer braucht, egal wie alt es ist. Heute wissen wir auch, wie wichtig es ist, die Mütter und Väter in den therapeutischen Prozess einzubeziehen. Denn „die Eltern sind sehr häufig die besten Verbündeten ihres Kindes, wenn es darum geht, die Essstörung zu bekämpfen", schreibt die Psychologin Dr. Catherine Sénecal (Du bist gut so, wie du bist!). 

Gabriele Degele, Mutter einer ehemals erkrankten Tochter und Gründerin der ersten Elternselbsthilfegruppe am Starnberger See, erinnert sich: „Da das Thema nach wie vor stark tabuisiert wird, habe ich aus meiner Not, meiner Hilflosigkeit und auch Verzweiflung einen Elterngesprächskreis ins Leben gerufen.“ Wenn Mütter Verständnis und Aussprache finden und auf diese Weise auch gut für sich selbst sorgen, stellt dies eine große Entlastung bei der Krisenbewältigung dar. Auch für mehr Prävention in den Schulen engagiert sich Gabriele Degele, denn „oft sind Lehrerinnen und Lehrer unsicher, wie sie jemanden ansprechen können, bei dem sie eine Essstörung vermuten.“ Müttern und ihren Töchtern hilft es gleichermaßen, wenn sie ihr weibliches Wesen wieder schätzen lernen. Anita Johnston schildert die Einstellung zur Weiblichkeit in matriarchalen Kulturen, von denen es übrigens heute weltweit noch zahlreiche Gesellschaften gibt. Sie bezieht sich auf frühere matriarchale Epochen : „Damals (…) waren die Erfahrungen von Frauen auf dieser Erde über Tausende von Jahren hinweg ganz anders als heute. In der damaligen Welt wurden alles Weibliche und alle Manifestationen von Weiblichkeit geehrt (…). Das Weibliche galt als die kreative Lebenskraft der Erde.“ Diese Rückbesinnung und Wiederverbindung mit der weiblichen, mütterlichen Kraft eröffnet den Heilungsweg. 

Anita Johnston: Die Frau, die im Mondlicht aß. Ess-Störungen überwinden durch die Weisheit uralter Märchen und Mythen

 

240 Seiten, Taschenbuch, Knaur Verlag, ISBN 9783426873762

 

Heilsame Seelenbilder sowohl für betroffene Mädchen und junge Frauen als auch für ihre Mütter. Das warmherzig geschriebene und tiefgründige Buch der Gründerin einer Klinik für Essstörungen stärkt ein gesundes Verhältnis zur Weiblichkeit.

Dr. Catherine Senécal: Du bist gut so, wie du bist! So befreien Sie Ihr Kind vom Figurwahn. Rollenklischees abbauen – Individualität stärken – Essstörungen vorbeugen

 

222 Seiten, Klappenbroschur, erschienen Oktober 2019, Mankau Verlag, ISBN 9783863745448

 

Eine hilfreiche Neuerscheinung: Die Psychologin Dr. Catherine Senécal betont die heilsame Wirkung der Verbundenheit mit der familiären Gemeinschaft. Das Buch gibt konkrete Ratschläge, wie Sie durch eine gemeinsame Esskultur Essstörungen vorbeugen, wie Sie Magersucht, Bulimie, Orthorexie etc. rechtzeitig erkennen können und welche Behandlungsmöglichkeiten Heilung versprechen. 


Bärbel Wardetzki: Iß doch endlich mal normal! Hilfen für Angehörige von essgestörten Mädchen und Frauen

 

248 Seiten, Broschur, Kösel Verlag, ISBN 9783466304066 

 

Die Diplompsychologin Bärbel Wardetzki schildert die vielschichtigen Dimensionen der Magersucht und Bulimie und ihre Auswirkung auf Familienangehörige bis hin zur Co-Abhängigkeit sowie die möglichen Hintergründe der Krankheit. Sie bezieht dabei auch die „narzißtische Gesellschaft“ mit ein, denn „wo Unbegrenztheit herrscht, wird Süchten der Boden bereitet.“

Sarah Blaffer Hrdy: Mütter und Andere. Wie die Evolution uns zu sozialen Wesen gemacht hat

 

544 Seiten, gebunden, Berlin Verlag, ISBN 9783827008855

 

Die Anthropologin erforscht die Folgen für unsere Gesellschaft, wenn eine konstante mütterliche Fürsorge und die Unterstützung der Mütter gewährleistet sind.

 

UF/Fotos: CG; mit freundlicher Genehmigung von Bloomsbury Verlag GmbH; Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH; Mankau Verlag GmbH; Verlagsgruppe Random House GmbH


Achten Sie bei Recherchen im Internet darauf, dass es auch Foren und Blogs gibt, in denen junge Mädchen die Krankheit beschönigen.

Weitere Informationen finden Sie unter www.therapienetz-essstoerung.dewww.cinderella-beratung.de.

Einen monatlichen Angehörigen-Gesprächskreis in München finden Sie bei www.therapienetz-essstoerung.de.