Kontinuität der Mutterlinie

Ein nächster Meilenstein im Leben von Mutter und Tochter ist erreicht, wenn der Schulabschluss geschafft ist. Bei einer G8 – Laufbahn am Gymnasium halten die heranwachsenden Mädchen und Jungen nun teilweise mit 17 Jahren ihr Abiturzeugnis in Händen. Ob sie sich nun ins Ausland oder ins Studium begeben, ist auch im Teenager-Alter ein Trend wieder unverkennbar: möglichst schnell raus aus dem Nest. 

„Das muss ja schlimm sein, wenn man solange fremdbestimmt leben muss“, hörte eine Mutter, deren Tochter am Wohnort studiert und noch bei ihr lebt. Klar - unhinterfragt wird ihr unterstellt, dass dieses Lebensmodell für ein Kind nicht gut sein kann. Vielmehr bedeutet es angeblich sogar, daß ihm darin keine Selbstbestimmung und Eigenständigkeit gewährt wird. Da sie eine Mutter ist, fühlt sich jeder berufen, derartig dreiste Behauptungen aufzustellen. Es scheint fast obszön, wenn sie ihr Kind gerne um sich hat und ihre gemeinsame Beziehung pflegt, anstatt sie abzubrechen wie bei einer Trennung.

 

Mutterseelen allein

„Uns geht es nicht nur gut“, sagt eine andere Mutter bei der Abiturfeier. „Ich bin in ein tiefes Loch gefallen und meine Tochter auch.“ Und wieder eine andere erzählt, es sei ein Schock für sie, dass ihre Tochter kurzfristig entschieden habe, für ein Jahr nach England zu gehen: „Ich konnte mich gar nicht darauf vorbereiten.“ Wohin mit dem Trennungsschmerz und der Wut über die Ablehnung? Mütter leiden, wie immer meist still und für sich allein und stets mit der Unsicherheit, ob sie überhaupt so fühlen dürfen. Denn eigentlich ist die Trennung von unseren Kindern doch normal und gewollt und gut. Fragt sich nur von wem und für wen. Allein das Hinterfragen der Normalität dieses Trends ist schon anrüchig. Nur Glucken, die klammern, nicht loslassen können oder ihre Kinder zum Partnerersatz gemacht haben, verhalten sich laut moderner Psychoklischees so. Die „normalen“ Frauen haben sich eh längst ihrer Karriere, ihrer Selbstverwirklichung und ihrem Mann gewidmet. Wenn dein Töchterlein ruft, springst du“, kommentierte eine Freundin den Wunsch einer Mutter, ihre verreisende Tochter auch im Teenageralter noch zum Bahnhof zu fahren. Mütter müssen nicht nur unter der ständig forcierten Trennung von ihren Kindern leiden, sondern auch noch unter der Empathielosigkeit ihres Umfelds. Als könne die Mutterschaft eine „Lebensabschnittsbeziehung“ sein: „Mutter, du hast deine Schuldigkeit getan, jetzt bleib, wo der Pfeffer wächst.“ 

 

Die Hau-drauf-Mentalität macht auch vor geglückten und glücklichen Mutter-Tochter-Beziehungen nicht halt. „Such dir jemanden, der dich glücklich macht. Ich bin es nicht mehr“, lehnte eine Tochter den Vorschlag ihrer Mutter ab, gemeinsam in den Urlaub zu fahren. Als könne das Glück und die Liebe einer Mutter zeitlich begrenzt werden. Zu stark ist der Druck der „Peergroup“, das Feld der Freundinnen und Freunde, die sich noch keine Gedanken über ihre Patriarchalisierung durch Schule und mediale Einflüsse gemacht haben. Die tatsächliche Fremdbestimmung nämlich.

Mutterlos allein 
In der herrschenden Gesellschaft ist der Weg ins Erwachsensein ein Alleingang. Denn die Freiheit und Eigenständigkeit in der weiten Welt, die in jedem Werbefilm verklärt angepriesen wird, ist ein einsames Entfremden von der Seele und ihren Wurzeln. Die jungen Frauen und Männer stolpern naiv in die Heimatlosigkeit eines frauen- und mütterfeindlichen Systems, das nur nach den Regeln des patriarchalisierten weißen Mannes spielt. Familiensinn bedeutet darin, dass sich vorher familienlos gewordene Fremde zu neuen Kleinfamilien zusammenschließen, die sich seit den Kinderkrippen-Generationen so früh wie möglich wieder voneinander trennen – um frei und eigenständig zu sein. Was für ein seltsames Wort – eigen und ständig – auf eigenen Füßen stehend, was wiederum unterstellt, dies könne ein junger Mensch in einer Mutter-Kind-Familie nicht. Warum eigentlich nicht? Die zahlreichen matriarchalen Völker leben es uns doch auch heute noch vor. Verbundenheit und Bindung durch Kontinuität, der Ruf danach verlagert sich weiter in virtuelle Räume. Individualisierung und Ökonomisierung sind die neue Norm. Die Mutter dient nicht mehr als Pol der Orientierung, sie ist nicht mehr diejenige, deren weises und nährendes Sein inneren und äußeren Halt gibt. Die Ausrichtung auf die natürliche Familie, die mit der Mutter und ihrem Kind beginnt, ist nicht mehr vorhanden. Ganz anders, als beispielsweise in der indigenen hawaiianischen Kultur, wo der Zusammenhalt mit der Herkunftsfamilie und das Teilen des gemeinsamen Alltags und seiner Anforderungen auch für junge Leute noch der zentrale Wert im Leben ist. 

Wohin dieses Lebensmodell der Trennung von der Mutter führt, zeigt die deprimierende Situation in Ländern, die seit Jahrzehnten die patriarchale „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ propagiert haben. Das Heidelberger Familienbüro berichtet, dass in einer Befragung zur persönlichen Lebenslage und zum persönlichen Umfeld " Frankreichs Nachwuchs laut einer internationalen Vergleichsstudie das Schlußlicht bildet“ (HBF, 09.08.13). Die nordischen Länder, einst Vorzeigemodell für ein „Familienparadies“, stellen sich 2010 ebenfalls der Selbstkritik und entlarven die scheinbare Idylle ihrer isolierten Familieninseln mit Rund-um-außer-Haus-Versorgung als Illusion. Nicht ausdrücklich erwähnt hierbei sind die Leiden der Mütter, die durch die unnatürliche  Mütter-Entsorgungstendenz erkranken. Über die patriarchalen Verdrehungen und Lügen, die Mütter so tief kränken und verletzen, zu sprechen, ist eine Wohltat für sie. Wenn wir sie aufdecken und mitteilen, stärken wir uns durch das Selbstverständnis, dass wir ein Leben lang Mutter sind. Aus dieser Kontinuität der Mutterlinie heraus können Familienbindungen den sicheren Boden bereiten, auf dem jedes Mitglied sein Leben gestalten kann. 

UF/Fotos: CF